DER EID DER JUGEND UNTER DER SLAWISCHEN LINDE
Von den Zeiten von Maria Theresia und Joseph II. hatten die böhmischen Länder mit einer langwierigen Germanisierung zu kämpfen. Infolge der zunehmenden nationalen Unzufriedenheit kam es im 19. Jahrhundert zu revolutionären Veränderungen, die als Nationales Erwachen bekannt wurden.
Alfons Muchas Bild erinnert an die politische Affäre, die sich um die Studentenbewegung Omladina drehte, deren Ziel es war, die tschechische Sprache, Kultur und Literatur im Kampf gegen den deutschen Nationalismus zu fördern. Im Jahr 1894 kam es zum Prozess gegen Omladina, bei dem 76 Personen wegen Hochverrats wegen ihrer Mitgliedschaft in der Organisation angeklagt wurden.
Alfons Muchas Bild zeigt die heilige slawische Linde, unter der die slawische Mutter Slavia sitzt. Vor ihr knien junge Menschen und schwören Treue gegenüber ihrer Nation. Im Hintergrund steht ein Greis mit einem Schnurrbart, der an eine ähnliche Bewegung in Serbien erinnert. Auf dem Bild sind unvollendete Gesichter. Der Grund war eine gewisse Vorsicht; es schien, als wollte er keine lebenden bedeutenden Persönlichkeiten wie Alois Rašín, Karel Stanislav Sokol, Stanislav Kostka Neumann und weitere porträtieren. Alfons Mucha sah sich in dieser schöpferischen Zeit mit der unangenehmen Situation konfrontiert, dass in den Jahren 1925 und 1926 eine Welle der Kritik an dem Slawischen Epos aufkam; vermutlich ist deshalb der obere Teil des Bildes unvollendet geblieben. Zu den größten Kritikern des Slawischen Epos gehörte Max Švabinský—paradoxerweise war es gerade Švabinský, der bei der Beerdigung von Alfons Mucha eine Traueransprache hielt.
Auf dem Bild ist nur der untere Teil ausgearbeitet. Auf der Fensterbank sitzen sich zwei Kinder gegenüber—ein Mädchen, das Harfe spielt, das dem Antlitz von Alfons´ Tochter Jaroslava entspricht, und ein Junge, dem das Antlitz von Alfons´ Sohn Jiří entspricht. Ganz rechts ist ein Symbol der Sonne in Bewegung, das von slawischen und anderen heidnischen Völkern verehrt wurde.